Einfacher wär's einfacher

aber:

Das Leben ist nicht einfach.

 

 

Lange Zeit reichte es den Menschen, die Zeit als Kreis wahrzunehmen:

1. Den Tag vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang, dem die Nacht folgt und dann der neue Tag
    oder: vom Sonnenuntergang bis zum nächsten Sonnenuntergang
    oder: vom Sonnanaufgang bis zum nächsten Sonnenaufgang
    oder: vom höchsten Stand der Sonne mittags bis zum nächsten Höchststand am folgenden Tag mittags

2. Das Jahr mit seinen Jahreszeiten von
   - Frühling, Sommer, Herbst und Winter
  - Trockenzeiten und Regenzeiten

  - Das Jahr mit seinen immer wiederkehrenden Festen

3. Das Leben bei Mensch und Tier - als immer neue Kreise / neues Leben  hervorbringend
  - ab der Zeugung über Geburt - Kindheit - Erwachsenensein - Zeugen bzw. Gebären - Alter und Tod

und von Pflanzen: Säen - keimen - wachsen- blühen- befruchtet werden - Frucht /Samen hervorbringend - vertrocknen - sterben - zu Humus werden

   "Von Erde bist Du genommen, zur Erde sollst du wieder werden" (1. Mose 3,19b) - heißt es über uns Menschen und sagen wir als Christen am Grab bei Beerdigungen bis heute.

 

Hier etwas zum Kreis(en) der Zeit  - scherzhaft und nachdenklich -

von Dirk Klute aus seinem Buch "Neben der Spur" - mit freundlicher Genehmigung

 

Lob des Kreises

 

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.

Rainer Maria Rilke

 

Zyklus - mein Thema. Ich drehe mich ja in allen möglichen Zyklen: Seit meiner Zeugung beschäftige ich jede meiner Zellen mit dem Zitronensäure-Zyklus. Das ist für die Energie. Schon kurz nach der Zeugung kam mein Kreis-Lauf dazu. Sollte ich 80 Jahre werden, werde ich es auf ungefähr 3 Milliarden Herzschläge bringen und auf fast 700 Millionen Atemzüge. Mein Herz startete übrigens schon vor meiner Geburt, die Lunge erst danach. Es ist eben eine Tugend, mal die Luft anzuhalten und dem Herzen Raum zu geben.

 

Ein ganz anderer Zyklus: Mein aktueller Montags-Zyklus: Aufstehen, Duschen, Tiere versorgen, Bahnhof, Andachten, Gesprächsrunde, Zweier-Gespräche, Schreibkram. Rückfahrt, Milchkaffee, etwas Haushalt oder Garten, Posaunenchor, Nachrichten, Korrespondenz, Bibel, Beten, Licht aus. Die Zyklen der übrigen Wochentage sehen etwas anders aus, die Samstags- und die Sonntags-Zyklen deutlicher anders.

 

Zusammen ergeben sie den Wochen-Zyklus. Dann gibt es noch den Jahres-Zyklus: Jahreszeiten, Kirchenjahr, Urlaubszeiten. Je nach dem, wo ich mich im Jahres-Zyklus befinde, fallen die Wochen- und Tageszyklen anders aus.

 

Alles dreht sich, alles wiederholt sich. Der „Prediger“ aus der Bibel hat schon recht: Es gibt nichts Neues unter der Sonne.

 

Oder doch? Da ist ja noch der Lebens-Zyklus: Den durchläuft man meist nur einmal, außer man ist Hindu oder ein anderer Reinkarnations-Anhänger. Es gibt viele Premieren: Die eigene Geburt, erster Schultag, erste Zahnlücke, erste Partnerschaft, erster Tag in der Lehre, erster Tod eines Elternteils, erstes graues Haar, erste Scheidung, erster Bandscheibenvorfall, erstes eigenes Kind, die Pensionierung, erste krasse Diagnose, erster Tag im Altenheim. Die Aussegnung. - Aber halt, die gehört ja nicht mehr richtig zum eigenen Lebens-Lauf. Sie können hier noch weitere „erste Male“ ergänzen, die Ihnen wichtig waren, wichtig sind oder werden könnten.

 

Allerdings: Ihre Premieren, die haben andere vor Ihnen schon ähnlich erlebt. Es gibt also doch nichts Neues unter der Sonne.

 

Und da sind noch die Zyklen in der Gesellschaft oder in der weiten Welt: Krieg und Frieden, Aufschwung und Abschwung, progressive und konservative Phasen.

 

Allerdings: Das mit den Zyklen passt für die Welt schlecht: Immer neu denken sich die Menschen Sachen aus, dahinter kommt die Welt nie wieder zurück: Die ersten sesshaften Menschen, das erste Geld, das erste Schriftzeichen, das erste Rad, das erste Bier, das erste Flugzeug, die erste Kernspaltung, die erste Anti-Baby-Pille, die erste Mondfahrt, der letzte Auerochse. Weltgeschichte verläuft linear – und kaum in Kreisen. Da gibt es doch dauernd Neues unter der Sonne. „Fortschritt“ sagt man dazu, aber das Wort hat schon länger seinen schönen Klang verloren.

Also: Ich drehe mich in unterschiedlichsten Kreisen - und bewege mit doch voran. Wie ein Auto: Seine Räder drehen sich im Kreis, aber es selbst fährt vorwärts.

Die vielen Kreise - das wäre der Punkt, mein großes Lamento anzustimmen: Mir wird schwindelig und alles dreht sich, ich drehe ab und durch. Das Lamento auf die vielen Zyklen. Ein gänzlich anderes Lamento auf die Zyklen wäre: Die nervtötenden Routinen. Immer dasselbe!

 

Aber nein, ich singe kein Lamento, sondern ein Lob auf die Zyklen: Routinen entlasten und geben Sicherheit. Die Kreisbewegung gibt Stabilität. Stellen Sie sich das vor: Ein Kreisel, der sich auf seiner geraden Linie bewegen soll, sich aber nicht mehr um sich selbst drehen darf: Zack, fällt er um. Fertig. Ich muss das natürlich so sagen, ich bin Pastor, und Pastoren haben es mit Ritualen. Rituale sind etwas Wiederkehrendes. Kreise. Stabilität, Vertrautheit, Heimat.

 

Nun hat der Kreisel in christlichen „Kreisen“ nicht die beste Presse, seit Manfred Siebald uns in die Seelen sang: „Dreh dich um dich selbst, dann wirst du brummen / bei jedem Kreis, den du beschreibst. Und dein Brummen wird erst dann verstummen, wenn du am Boden liegen bleibst!“ Aber das ist nicht ganz fair: Der Kreisel fällt ja nicht, weil er sich um sich selbst dreht, sondern weil er sich nicht mehr um sich selbst dreht. Außerdem hat Siebald selbst das Kreisen rehabilitiert: Ganz bestimmt kennen Sie den kleinen Stein, der ins Wasser fällt. Und was zieht er da? Weite Kreise!

 

Oder: Die Erde, die die Christenheit gern als „Erdkreis“-Scheibe behalten hätte. Ist sie aber nicht. Als Kugel kann sie sich prima drehen. Selbstverliebt, wie sie ist, dreht sie sich um sich selbst. Daher die Tageszeiten, Ebbe und Flut. Selbstlos, wie sie aber auch ist, dreht sie sich um die Sonne. Einen Kreis ergibt das nicht ganz, mehr ein Ei. Das gibt dann die Jahreszeiten.

 

Es ist ein Zeichen des Niedergangs des christlichen Abendlandes: Im Straßenverkehr werden immer mehr Kreuzungen durch den Kreiss-Verkehr abgelöst. Der Kreis-Verkehr – die postmoderne Chance, vom Fortschritts-Modus in die Kreis-Bewegung zu kommen, vom linearen Denken ins zirkuläre. Auch Umkehren wird im Kreisverkehr leicht! Und wenn ich die richtige Ausfahrt verpasst habe, dann eben in der nächsten Runde.

 

Hier ist nun der Augenblick für ein Geständnis: Der von mir so hoch gelobte Kreis kommt fast nirgendwo in der Bibel vor. Was haben wir also davon zu halten, dass ausgerechnet die frommere Fraktion der Christenheit sich gern in Bibel-Kreisen, Haus-Kreisen, Jugend-Kreisen, Senioren-Kreisen trifft?

Die Heiligen des Kreises und die des Krummen sind nicht dieselben. Rilke hatten wir schon. Dann Friedensreich Hundertwasser: „Die gerade Linie ist gottlos und unmoralisch!“ Wolf Biermann singt: „Ich will noch’n bißehen was Blaues sehn / und will noch paar eckige Rundn drehn / und dann erst den Löffel abgebn ...“ Und was sagt Archimedes, bevor er besagten Löffel abgibt? „Störe meine Kreise nicht!“ Na bitte.


  

Wechselwirkungen: